Die Lesung während der Buchmesse in Leipzig war gut besucht und eine Gelegenheit, nicht nur mit den Zuhörern, sondern auch mit anderen Schreibenden ins Gespräch zu kommen. Naturgemäß sind die Themen weit gestreut und spiegeln die Bezugssysteme untereinander wie die zur Welt. Eine – leider durch die Umstände zu kurze – Unterhaltung ist mir im Gedächtnis geblieben. Möglicherweise, weil existenzielle Fragen grundsätzlicher Art berührt wurden und fehlende Auflösung uns stärker fasziniert als jedes nonchalante Antwortenangebot.
Worum drehte sich unser Gespräch? Die Kollegin und ich diskutierten Widerstände im Schreiben, sprachen über den Umgang mit Normen und Zwängen, über Individualismus, Freiheit und das Aufgehen in einer Gruppe, die sich über Codes ausdefiniert. Dabei stellte sich uns die Frage, ob es eine moderne Eremitage, ein Außerhalb von Gruppenzusammenhängen geben kann, das nicht in hierarchischen Beziehungen mündet: Das Nicht-Identische, also das distinktiv Andere wird oft beantwortet mit Verachtung und Abwertung oder mit Bewunderung und Idolisierung. Die Psychologie hat verschiedene Erklärungsmodelle hierfür. Interessant für mich ist jedoch die Frage: Wie wird ein Nebeneinander, eine gleichwertige, gleich gewichtete Koexistenz möglich? Die Unterhaltung mündete in Überlegungen darüber, wie viel Anderes der Einzelne verträgt, wie viel Distinktion aushaltbar ist, ohne dem Anderssein eine Wertung mitzugeben, mitgeben zu müssen als Folge innerer Zwänge und Anlagen. Wie müssten die Voraussetzungen sein, damit eine respektvolle Koexistenz möglich ist, vielleicht sogar ein fruchtbarer Austausch?
Ich bin der Auffassung, dass diese Fragestellung nicht nur die aktuelle Weltpolitik und die globalen Finanzmärkte, die kapitalistischen Systeme und die Religionsgemeinschaften betrifft, – und deren Lösung in Bezug auf Distinktion in einer spezifischen mehr oder weniger kultivierten Form des archaischen "Fressen-oder-gefressen-werden" gipfelt – sondern jeden von uns Tag für Tag herausfordert.
Die Unterschiede zwischen Bürogemeinschaft und Kriegsschauplatz, zwischen Social-Media-Teilhabe und Diktatur, zwischen Vereinsleben und kriminellen Organisationen diversen
Zuschnitts scheinen mir gleichermaßen eklatant wie minimal: System vs. Wirkung:
Auf Abweichung folgt in der Regel eine hierarchische Bewertung in Bezug auf die eigene Person und die Gruppe, der sich der Einzelne zuordnet. Ein "Aus-der-Reihe-tanzen" kann also entweder zu Diskriminierung und Marginalisierung bis hin zu Folter und Tod führen oder aber mit einer, dann als positives Alleinstellungsmerkmal gepriesenen Differenz (im englischen sehr deutlich: "unique selling point") zu einer Aufwertung und Idealisierung, respektive Idolisierung führen.
Ein identisches System führt bei modifizierten Kontrollmechanismen zu maximal unterschiedlichen Ergebnissen für alle Beteiligten
Ausgangspunkt scheint mir für dieses Verhalten die unbewusste Annahme einer Bedrohung. Das Bedrohungsszenario möge sich in einem klar definierten Machtverhältnis auflösen: Eben in Unter- oder Überordnung münden. Ein auszuhaltendes gleich Gewichten scheint – die menschliche Entwicklungsgeschichte betrachtend – selten die Lösung der Wahl.
Hier sei nur kurz auf die unterschiedlichen sozialen Ordnungen von Bonobos und Schimpansen verwiesen. Aggression wird bei den einen hauptsächlich nach innen gewendet (sexuelle Triebabfuhr innerhalb der Gruppe), bei den anderen hingegen nach außen (Kämpfe unter Rivalen der eigenen Gruppe oder gemeinsam gegen alles andere).
Dennoch lassen sich unterschiedliche Ausprägungen feststellen in dieser Form des Umgangs mit dem Anderen (das uns fälschlich als Fremdes gilt, denn es erschreckt zumeist das Bekannte, aber als
Beängstigendes Abgespaltene), die von großer Bedeutung sind. Unnötig anzufügen, dass ich vorziehe, in einer toleranteren Kultur leben zu wollen. Doch die beschriebenen Wirkprinzipien finden sich
auch hier.
Etwas muss dazu führen, dass einzelne Gruppen stärker in der Lage sind, abweichende Haltungen und Setzungen auszuhalten. Ich gehe davon aus, dass dies eher einem wie auch immer gearteten
Belohnungsinstrumentarium geschuldet ist, als dass diese Kulturleistung auf Abschreckung und Furcht beruht. (Oder wünsche ich mir das nur?)
Hier schließt sich der Kreis: Welche Belohnung bietet Toleranz? Was bringt Menschen dazu, das Andere, das immer auch ein Stück vom Eigenen ist, auch dann auszuhalten, zu respektieren, vielleicht
affektiv positiv aufzuladen, wenn es sich außerhalb der eigenen Zuordnungsmenge positioniert? Und: Wie lassen sich die unterschiedlichen Wertesysteme (denn nur das
ist Belohnung, was als solche in allgemeinem wie in individuellem Konsens definiert wird) beeinflussen, ohne selbst hierarchische Systeme zu nutzen?
Eine andere Kollegin äußerte, zu ihren Texten befragt, sie denke, die Welt sei einfach. Ich kann dies nicht finden.
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